Untersuchungshaft in Europa (2009-2012)

In den 47 Staaten des Europarats waren im September 2009 etwa 370.000 Untersuchungsgefangene inhaftiert, davon rund 136.000 in der Europäischen Union und 11.000 in Deutschland. Für sie alle gilt die Unschuldsvermutung, dennoch dauert die Haft oft lange, und europaweit sind die Untersuchungshaftbedingungen schlechter als die des Strafvollzugs. In Untersuchungshaft darf eine verdächtige Person nur genommen werden, wenn ein Tatverdacht und ein Haftgrund (zumeist betrifft dies Flucht- oder Verdunkelungsgefahr) gegeben ist und die Untersuchungshaft nicht unverhältnismäßig erscheint.

Laut der von der Universität Tilburg und der Universität Greifswald (Projektleitung: Anton van Kalmthout/Christine Morgenstern) von November 2007 bis März 2009 durchgeführten Studie „An analysis of minimum standards in pre-trial detention and the grounds for regular review in the Member States of the EU“) sind diese Minimalvoraussetzungen in den rechtlichen Grundlagen in allen Staaten der EU gleichermaßen zu finden. Die Studie entstand im Auftrag der Europäischen Kommission vor dem Hintergrund gewachsener Anforderungen an die justizielle Zusammenarbeit in Strafsachen innerhalb der EU. Als knappe Bestandsaufnahme der Rechtspraxis konzipiert, besteht sie aus einem Einleitungskapitel und 27 Länderberichten für die Mitgliedstaaten der EU und wurde 2009 bei Wolf Legal Publishers in englischer Sprache publiziert. Die Einführung enthält neben einigen rechtsvergleichenden Betrachtungen, zum Beispiel zum Begriff der Untersuchungshaft, eine zusammenfassende Darstellung der wichtigsten Punkte. Danach sind Rechtsgarantien in den meisten Gesetzen bedeutend ausgebaut worden, wohingegen ihre praktische Umsetzung problematisch bleibt. Das gilt (mit Ausnahme der Common Law-Staaten) besonders für die Dauer der Untersuchungshaft. Die materiellen Haftbedingungen haben sich in den letzten zwanzig Jahren gerade in den zentral- und osteuropäischen Staaten gebessert, auch die Überbelegung ist nur noch in manchen Staaten ein großes Problem. Defizite sind jedoch nahezu überall im Hinblick auf die an Sicherheit und Ordnung orientierte Ausgestaltung des Vollzugs, die den Gefangenen kaum sinnvolle Tagegestaltung ermöglicht, erkennbar. Besonders betreffen die geschilderten Probleme ausländische Tatverdächtige, die in der Untersuchungshaft der meisten westeuropäischen Staaten erheblich überrepräsentiert sind.

Im Rahmen ihres Habilitationsvorhabens vertieft Christine Morgenstern die Erkenntnisse dieser Studie für ausgewählte europäische Staaten und erweitert sie um eine Dimension: Erstmals werden vollständig europäische Standards und Initiativen zur Untersuchungshaft auf Europarats- und EU-Ebene erfasst und kommentiert. Vor diesem Hintergrund werden Recht, Praxis und Stand der Forschung zur Untersuchungshaft in ausgewählten europäischen Staaten erarbeitet und Gemeinsamkeiten, Divergenzen sowie der Grad der Berücksichtigung europäischer Vorgaben aufgezeigt. Der kriminalwissenschaftliche Ertrag der Studie ist damit eine Bestandsaufnahme des Rechts der Untersuchungshaft in Europa, die normative Reflexion mit vergleichender kriminalsoziologischer Betrachtung verbindet. Von konkreter kriminalpolitischer Bedeutung sind Impulse für die nationale Praxis und europaweit für grenzüberschreitende Probleme. Insbesondere werden Umsetzungschancen und -hindernisse bei der gegenseitigen Anerkennung strafprozessualer Entscheidungen zur Untersuchungshaft identifiziert.

DFG-Forschungsförderung für das Projekt "Untersuchungshaft in Europa"