Vergangene Veranstaltungen

„Zu viel Verfassungsrecht?“

Den abschließenden Vortrag der Vortragsreihe „Zu viel Recht“ hielt am 15. Juli 2025 Prof. Dr. Norbert Lammert, seines Zeichens vormaliger Präsident des Deutschen Bundestages und gegenwärtiger Vorsitzender der Konrad-Adenauer-Stiftung. Lammert näherte sich der Frage nach einem möglichen Zuviel an Verfassungsrecht nicht nur aus rechtlicher, sondern vor allem aus politischer, gesellschaftlicher und historischer Perspektive – geprägt durch seine langjährige Erfahrung als Politiker, Parlamentspräsident und Verfassungspraktiker. 

Zum Einstieg rekurrierte der Referent auf Montesquieu sowie Kant und argumentierte, dass sich Montesquieus Freiheitsbegriff als zu eng gefasst erweise, wenn dieser davon spreche, dass die Freiheit dort endet, wo das Gesetz beginnt. Vielmehr übersteige das menschliche Wollen, getragen von individuellen Bedürfnissen und gesellschaftlichen Erwartungen, häufig den Rahmen des rechtlich Zulässigen. Gegenüber dem bekannten Dictum von Immanuel Kant, wonach das Recht nie der Politik, wohl aber die Politik dem Recht angepasst werden muss, gab Lammert zu bedenken, dass auch die Politik Schutz vor dem Recht benötige. Die rechtliche Begrenzung gewählter Volksvertreter bedeute zugleich eine Einschränkung des Souveräns – des Volkes. Besonders deutlich zeige sich dies im Kontext der Europäischen Union: Zentrale Regelungen seien dort in Verträgen festgeschrieben, deren Änderung Einstimmigkeit voraussetze und damit politisch kaum zu realisieren sei. Das Europäische Parlament könne aufgrund primärrechtlicher Vorgaben nur begrenzt auf die Verträge Einfluss nehmen, weshalb sich die Stimme des Wählers über das Parlament regelmäßig nur auf Randthemen auswirke. Dies bürge das Risiko, dass ein Gefühl von Hilflosigkeit und institutioneller Ablehnung bei den Wählern entstehe.

Anschließend fokussierte Lammert die nationale Ebene. Statistisch lasse sich eine Überkonstitutionalisierung durchaus belegen: Seit Inkrafttreten des Grundgesetzes habe sich sein Textumfang verdoppelt. Einige der hinzugekommenen Regelungen würden dem an verfassungsrechtliche Normen gestellten Anspruch nach Grundsätzlichkeit und Wesentlichkeit nicht gerecht. Trotz dessen bleibe das nunmehr 75 Jahre alte Grundgesetz eine stabile und überzeugende Verfassung. Insbesondere die konsequente Gewaltenteilung sowie die Etablierung eines eigenständigen Verfassungsgerichts hob Lammert lobend hervor. 

Einschränkend sei allerdings festzustellen, dass das Bundesverfassungsgericht über die Jahre hinweg nicht nur die Maßstäbe des Grundgesetzes angewendet, sondern zunehmend selbst Maßstäbe für politisches Handeln gesetzt habe. Grund dafür sei vor allem die letztlich unmögliche Trennung von (Verfassungs-)Recht und Politik, prüfe das Verfassungsgericht doch Gesetze, also Produkte der Politik, am Maßstab des Grundgesetzes, wobei es den geschriebenen Verfassungstext im Lichte der politischen Entwicklung auslege.

Besonders eindrücklich zeige sich dies beim verfassungsgerichtlichen Umgang mit dem assistierten Suizid. Vor der einschlägigen Entscheidung Karlsruhes im Jahr 2020 hatte sich der demokratisch legitimierte Gesetzgeber nach einem langwierigen, komplexen und überparteilichen Prozess dafür entschieden, die geschäftsmäßige Förderung der Selbsttötung zu verbieten. Das Bundesverfassungsgericht setzte sich gleichwohl, wenn auch mit vertretbarer Argumentation, über diese wohlüberlegte Entscheidung der Politik hinweg, indem es dieses Verbot für verfassungswidrig erklärte. Dies sei kritisch zu betrachten, denn so beanspruche das Gericht das letzte Wort gegenüber dem Gesetzgeber, der über eine deutlich breitere demokratische Legitimation verfüge.

Lammert mahnt in seinem Vortrag darauf zu achten, wo das Bundesverfassungsgericht seiner Rolle als Hüter der Verfassung gerecht werde und wo es beginne, selbst Politik zu gestalten. Wo Verfassungsinterpretation zur Verfassungsweiterentwicklung werde, brauche es eine neue Sensibilität für die Ausbalancierung juristischer Kontrolle und politischer Gestaltung. Mit anderen Worten: Über eine gut begründete Position des Gesetzgebers dürfe sich das Bundesverfassungsgericht nicht mit einer ebenso gut begründeten Einschätzung hinwegsetzen.

„Zu viel Verwaltungsrecht?“ – Zwischen Regelungsdichte und Rückbau

Mit einem rechts-, verwaltungs- und politikwissenschaftliche Perspektiven vereinenden Vortrag zum Thema „Zu viel Verwaltungsrecht?“ setzte Prof. Dr. Martin Burgi von der LMU München die Vortragsreihe „Zu viel Recht?“ am 9. Juli 2025 fort.

 „Verwaltungsrecht“ stand im Vortrag stellvertretend für den in der öffentlichen Diskussion dominierenden Begriff der „Bürokratie“, unter den Burgi, im Anschluss an Max Weber, sowohl die Implementierung staatlicher Rechtsregeln durch die Verwaltung als auch die Regeln selbst fasste. 

Der Referent machte deutlich, dass eine produktive Debatte über ein Zuviel an Bürokratie eine präzise Terminologie erfordert. So sei im Bürokratiekontext kein schlichter „Abbau“ im Sinne eines einfachen Reduzierens notwendig, sondern ein gezielter „Rückbau“, verstanden als gestalterische Anpassung und Modernisierung der Bürokratie.

Sodann wurden differenziert die Gegenstände („Was“) und die Begünstigten von Entbürokratisierungsbemühungen („Wer“) beleuchtet.  Durch den Rückbau hoheitlicher Aufgaben, materiellrechtlicher Vorgaben und Standards sowie von Verfahrensregeln könnten sowohl Grundrechtsträger als auch staatliche Stellen, allen voran die in ihrem Selbstverwaltungsrecht geschützten Kommunen, begünstigt werden.

Daran anknüpfend analysierte Burgi verschiedene in der Entbürokratisierungsdebatte thematisierte Maßnahmen. Kritisch zeigte er sich sowohl gegenüber sog. „1-in-1-out-Regeln“ als auch gegenüber „Checkstationen“, wie sie etwa der Zwischenbericht der Initiative für einen handlungsfähigen Staat vorschlägt. Sie verursachten zumeist mehr Aufwand als sie positive Rückbaueffekte erzielten. Potential hätten hingegen sog. Prüflabore, jedoch nur in ausgewählten Bereichen. Auch Anzeigepflichten und negative Schutznormen, die der Ausweitung von Klagebefugnissen entgegenwirkten, könnten zur Entlastung beitragen. Vor allem aber sei ein grundlegender Perspektivwechsel im Verwaltungsverfahren erforderlich: Statt von einem Grundmisstrauen auszugehen, sollte die Verwaltung den Bürgerinnen und Bürgern grundsätzlich Vertrauen entgegenbringen – etwa durch das Einholen einer Eideserklärung anstelle weiterer Nachweise.

Um einen effizienten Bürokratierückbau zu ermöglichen, präsentierte Burgi abschließend ein Prüfraster: Zuerst gilt es danach zu klären, welchen konkreten Nutzen die Rückbaumaßnahme erwarten lässt und wie dieser im Verhältnis zum Nutzen der abzuschaffenden Regelung steht. Anschließend müssten mögliche Bürokratieverlagerungen auf nachgeordnete staatliche Ebenen erkannt und vermieden werden. Zuletzt dürfe der Bürokratierückbau nicht im Widerspruch zu höherrangigem Recht stehen.

Der Vortrag stellte eindrucksvoll unter Beweis, dass für einen gelingenden Bürokratierückbau keine einfachen Lösungen zur Verfügung stehen. Um diese komplexe Herausforderung bewältigen zu können, bedarf es vielmehr eines differenzierten Ansatzes. Mit anderen Worten: Einem „Zuviel“ an Bürokratie gilt es wohlüberlegt mit dem Skalpell, nicht grob mit der Kettensäge zu begegnen.

„Zu viel Europarecht?“ – Auftakt der neuen Vortragsreihe mit Prof. Dr. Claus Dieter Classen

Mit Antworten auf die Frage „Zu viel Europarecht?“ eröffnete Prof. Dr. Claus Dieter Classen von der Universität Greifswald am 26. Juni 2025 die neue Vortragsreihe „Zu viel Recht?“ im Rahmen der Greifswalder Rechtsvorträge.

Eingangs unterschied Classen zwischen einem systemexternen Maßstab für das richtige Maß von Recht, der auf die Auswirkungen von Recht auf Freiräume von privaten und öffentlichen Akteuren fokussiert, und einem systeminternen Maßstab, der in den Blick nimmt, ob das Recht seine Ziele noch wirksam erreichen kann.

Sodann widersprach der Referent mit Blick auf das unionale Primärrecht der in der Literatur vorgetragenen These einer „Überkonstitutionalisierung“ der Europäischen Union und einer damit vermeintlich einhergehenden (zu) großen Machtkonzentration beim Europäischen Gerichtshof. Das Vertragsrecht enthalte nur wenige materielle Vorgaben, bei deren interpretativen Entfaltung der Europäische Gerichtshof den Mitgliedstaaten einen erheblichen Gestaltungsspielraum belasse.

Mit Blick auf das Sekundärrecht sei hingegen durchaus eine Vielzahl von Rechtsakten und eine große Regelungsdichte zu diagnostizieren. Classen räumte die damit verbundenen Herausforderungen für Rechtsanwender ein, betonte jedoch, dass die hohe Anzahl und Dichte der Regelungen nicht als Produkte willkürlicher Überregulierung missverstanden werden dürften. Vielmehr lägen ihnen strukturelle Eigenheiten der Europäischen Union zugrunde, die man beklagen, aber kaum beseitigen könne. Viel Sekundärrecht – so Classen – habe zwar seinen Preis; weniger Sekundärrecht aber auch.

Ein gelungener Auftakt, der keine einfachen Antworten bereithielt, sondern zum Nachdenken anregte und damit den Ton für die weitere Vortragsreihe setzte.

GreifPRAXIS startet mit hochkarätigem Auftakt: OLG-Rostock-Präsident Kai-Uwe Theede über die juristische Aufarbeitung des „Abgasskandals“

Millionen betroffene Fahrzeuge und tausende Verfahren vor hunderten Gerichten – „Dieselgate“ zählt zu den größten justiziellen Herausforderungen der letzten Jahre. Welche juristischen Fragen wirft der Abgasskandal auf? Und wie gelingt es der Justiz, der dadurch ausgelösten Klagewelle standzuhalten? Diese und weitere Themen standen im Mittelpunkt des GreifPRAXIS-Auftakts am 4. Juni 2025.

Kai-Uwe Theede, Präsident des Oberlandesgerichts Rostock, beleuchtete die juristische Aufarbeitung des Skandals anhand zentraler Entscheidungen von BGH und EuGH und erläuterte die komplexen Zusammenhänge anschaulich und interaktiv anhand eines Falles.

Anschließend ging der Referent allgemein auf Herausforderungen ein, mit denen die Justiz gegenwärtig konfrontiert ist, zu denen neben der Bewältigung von Massenverfahren auch der Umgang mit künstlicher Intelligenz und die Nachwuchsgewinnung gehört. Schließlich gab Theede persönliche Einblicke in seinen vielfältigen Berufsalltag – zwischen richterlicher Tätigkeit und den administrativen Aufgaben eines OLG-Präsidenten.

Ein vielseitiger Abend, der juristische Tiefe mit praxisnaher Orientierung verband – und damit für alle Teilnehmenden bereichernd war.

Tim Schröter, Universität Greifswald