Warum Schlüsselqualifikationen im Jurastudium?
Nach jahrzehntelanger Diskussion trat zum 1. Juli 2003 das Gesetz zur Reform der Juristenausbildung mit der Neufassung von § 5a (3) des Deutschen Richtergesetzes (DRiG) in Kraft. Ziel dieser Neuregelung war und ist, dass das Studium in weitaus stärkerem Maß als bis dato Praxis- und Anwaltsbezüge enthalten soll (vgl. Römermann/Paulus 2003, Vorwort). Den Studierenden sollen neben der konfliktbezogenen Arbeitsweise des Richters auch interessenorientierte, kooperativ-vorausschauende, kreativ-gestaltende und schlichtend-integrative Arbeitsmethoden vermittelt werden. Hinzu kommt die Erkenntnis, dass fachliche juristische Fähigkeiten nicht allein den beruflichen Erfolg garantieren, sondern mindestens ebenso kommunikative und soziale Kompetenzen. Das DRiG nennt in seiner (ausdrücklich nicht erschöpfenden) Aufzählung von Schlüsselqualifikationen deshalb vor allem mündlich kommunikative Fähigkeiten, die im Fachstudium meist hinter die schriftlich geprägten Arbeitsmethoden zurücktreten. Die juristische Berufspraxis ist stärker durch Mündlichkeit geprägt, angefangen bei Anträgen vor Gericht (inklusive Plädoyer), über Interaktionen mit Mandanten (Rechtsberatung), Sitzungsleitungen, Aktenvorträge, bis zu spontanen Vertretungen von Rechtsauffassungen gegenüber Kollegen.
Wer als Juristin oder Jurist in der Öffentlichkeit steht oder sich politisch engagiert, hat sich in Statements, Anlassreden, Vorstellungsvorträge oder Diskussionsbeiträge z. B. in Bürgerforen zu bewähren. Juristen müssen wirkungsorientiert, d. h. auf die Überzeugung von Adressaten ausgerichtet sprechen und hierfür auf Körperkommunikation, Gesprächshaltung, Sprech- und Sprachausdruck achten. Sie müssen eine Auffassung glaubwürdig darstellen und die eigenen Argumente verständlich und schlüssig artikulieren können. Die oftmals sehr komplexe Struktur von Rechtsproblemen macht eine Kooperation zwischen mehreren Anwälten unverzichtbar. Daher müssen Juristen die Fähigkeit besitzen, kooperativ zu verhandeln und integrativ auf die Gegenseite einzugehen, anstatt nur kompetitiv auf den eigenen Positionen bzw. Ansprüchen zu beharren.
Von Juristen wird zudem erwartet, dass sie sich in die Situation ihres Mandanten hineinversetzen und sich vor Rechtslaien ausdrücken können (vgl. Däubler, 2003, S. 8). Auch in Vernehmungen vor Gericht ist eine einfühlsame Gesprächsführung förderlich. Daher muss ein Jurist Empathie zeigen sowie adressatenorientiert argumentieren und selbst komplizierte Sachverhalte korrekt und gleichzeitig verständlich erklären können.
Abgesehen davon reicht das Berufsbild des Juristen oder der Juristin über die klassische forensische Tätigkeit hinaus. Wer in Führungspositionen privater Unternehmen sein Aufgabenfeld findet, muss seine Führungskompetenz fast täglich in Präsentations-, Verhandlungs- und Konfliktlösungssitutationen unter Beweis stellen.
Zu den notwendigen mündlichen Fähigkeiten zählen in der Spezifikation nach Brinktrine/Schneider, 2008, S. 14 daher u. a.:
- die Fähigkeit erfolgreich vor Publikum zu sprechen, zu präsentieren und zu visualisieren,
- die Fähigkeit, Versammlungen zu organisieren und zu leiten,
- Menschen motivieren zu können,
- die Kunst zu verhandeln und Konflikte zu entschärfen.
Die JAPO M-V schreibt in der Umsetzung des DRiG für die Zulassung zur Pflichtprüfung neben den Grundlagen und Fortgeschrittenenübungen auch den Besuch "einer Lehrveranstaltung zur Vermittlung interdisziplinärer Schlüsselqualifikationen" vor (§ 5 Abs. 2 Nr. 3 JAPO M-V). Bei den Schlüsselqualifikationen handelt es sich also um eine obligatorische Lehrveranstaltung im Studiengang (Studienordnung Rechtswissenschaften). In Greifswald werden mit der "Rhetorik im Jurastudium" und den "Techniken der Gesprächsführung und Konfliktlösung" zwei alternative Lehrveranstaltungen angeboten.
Anmeldungen zu den Schlüsselqualifikationen für Juristen sind über das Selbstbedienungsportal (HIS) möglich, sobald diese Website und die Seiten des HIS mit den Terminen des anstehenden Semesters aktualisiert wurden (i. d. R. Ende Februar für das Sommersemester bzw. Mitte September für das Wintersemester).
Hinweis zur Sprachregelung: Der Übersichtlichkeit und leichteren Lesbarkeit wegen wird hier und auf den folgenden Seiten weitgehend die herkömmliche Sprachform des "Juristen" verwendet. Gemeint ist eine geschlechtsunspezifische Berufsbezeichnung. Es sind stets und ausdrücklich alle Geschlechter dieses Berufsbildes gemeint (vgl. auch Tröger 2021, S. 17 f.).
Quellen und weiterführende Literatur
- Bildungskommission NRW: Zukunft der Bildung – Schule der Zukunft. Denkschrift der Kommission beim Ministerpräsidenten des Landes Nordrhein-Westfalen, Neuwied, Kriftel & Berlin 1995.
- Brinktrine, Ralf/Schneider, Hendrik: Juristische Schlüsselqualifikationen, Heidelberg 2008, dort auch der gesetzgeberische Weg zur Einführung der Schlüsselqualifikationen im Jurastudium sowie die landesrechtlichen Regelungen (S. 5-10).
- Däubler, Wolfgang: Verhandeln und Gestalten. Der Kern der neuen Schlüsselqualifikationen, JuS Schriftenreihe, München 2003.
- Knape, Joachim: Adressatensplitting und Doppeladressierung. Zur schriftlichen Kommunikation im familiengerichtlichen Verfahren, in: FPR 2013, S.484-487.
- Orth, Helen: Schlüsselqualifikationen an deutschen Hochschulen, Neuwied 1999.
- Ponschab, Reiner/Schweizer, Adrian (Hg.): Schlüsselqualifikationen Kommunikation, Mediation, Rhetorik, Verhandlung, Vernehmung, Köln 2008.
- Römermann, Volker/Paulus, Christoph: Schlüsselqualifikationen für Jurastudium, Examen und Beruf, München 2003.
- Tröger, Thilo: Rhetorik für Juristen. Recht reden, Baden-Baden 2021, S. 53 ff.
- Tröger, Thilo: Kommunikative Schlüsselkompetenz zur Berufsqualifizierung im Jurastudium, in: Greifswalder Beiträge zur Hochschullehre, Nr. 5 (2015): "Vermittlung von Schlüsselkompetenzen in der polyvalenten Lehre", S. 40-51.